Meinung: Der Fall Gelbhaar: Wenn „Betroffenen glauben“ zur Religion wird

Der Fall Stefan Gelbhaar zeigt: „Betroffenen glauben“ ist ein lobenswerter feministischer Anspruch – wird jedoch zur Ideologie, wenn Nachfragen und Zweifel unerwünscht sind.

Die letzten Wochen waren ein Lehrstück darüber, wie gute Absichten in der Tonne enden können. Der Fall Stefan Gelbhaar geht uns alle an, weil er die große Frage stellt: Wie wollen wir als Gesellschaft mit Vorwürfen sexualisierter Gewalt umgehen? 

Stefan Gelbhaar wird bei der Bundestagswahl nicht antreten

Der Grünen-Politiker Stefan Gelbhaar hat fünf Wochen vor der Wahl seinen Listenplatz und Wahlkreis verloren – mutmaßlich wegen einer parteiinternen Intrige. Im Dezember gingen mehrere Anschuldigungen gegen ihn ein, bei der Ombudsstelle, einer niedrigschwelligen Anlaufstelle der Grünen. Die schwersten, justiziablen Vorwürfe sexuellen Missbrauchs wurden von einer „Anne K.“ erhoben. Doch dann stellte sich heraus: Diese Frau existiert nicht. Sie sei frei erfunden, mutmaßlich von einer grünen Parteikollegin, räumte der RBB ein. Der Sender hatte über Belästigungsvorwürfe gegen Gelbhaar berichtet, musste dann aber seine Berichterstattung zum Teil zurückziehen. Gelbhaar hatte alle Anschuldigungen stets zurückgewiesen. Für ihn ist es vorerst das Ende seiner politischen Karriere. 

Mangelnde Skepsis, mangelnde Recherche, vorschnelle Veröffentlichung

Noch ist unklar, wer davon hätte profitieren sollen. Sieben Vorwürfe stehen noch im Raum, die dem Vernehmen nach aber nicht justiziabel sind. Die Akte Gelbhaar ist undurchsichtig – und brisant. 

Fall Gelbhaar: Grüne Bezirkschefin tritt zurück.  10.15

Die Reaktion der Grünen Jugend auf den Fall Gelbhaar ist bezeichnend. „Es gilt in einer feministischen Partei, Betroffenen zu glauben“ sagte die Grüne-Jugend-Chefin Jette Nietzard vor ein paar Tagen. Klingt erst mal schön empathisch. Nur: Nicht jede Frau, die behauptet, betroffen zu sein, ist tatsächlich ein Opfer. Der seit 2017 grassierende #MeToo-Slogan „believe women“ ist ein lobenswerter feministischer Anspruch. Doch er verkommt zur quasi religiösen Ideologie, wenn Nachfragen und Zweifel grundsätzlich unerwünscht sind. Es ist kein Widerspruch, empathisch zu sein und gleichzeitig genau zu recherchieren. Aber mit dieser einseitigen Reaktion bestätigt die Grüne Jugend ein Vorurteil über ihre Partei: Ach, wieder die dogmatischen „Woken“. So schaden sie nicht nur sich selbst, sondern auch der #MeToo-Bewegung. 

Was ist „Betroffenengerechtigkeit“?

Das grüne Selbstverständnis als feministische Partei kommt hier an einen wunden Punkt. Auf der Website der Grünen heißt es über die Arbeit ihrer Ombudsstelle: „Wir stellen die Betroffenengerechtigkeit in den Vordergrund. Die Perspektive der Betroffenen ist für uns handlungsleitend.“ Übersetzt bedeutet das: Wir sind vorsätzlich parteiisch. „Die Unschuldsvermutung gilt immer vor Gericht. Aber wir sind eine Organisation, und wir sind kein Gericht“, sagte Nietzhard. Das stimmt, sie sind kein Gericht. Aber entbindet das eine Organisation jeder öffentlichen Verantwortung? 

Wenn Metoo zur Waffe wird – Kommentar.   14.30

Die Ombudsstelle habe „wenig zur Aufklärung, aber viel zur Eskalation beigetragen“, schreibt die „Zeit“. Und weiter: „Gelbhaar wurde zu einem Zeitpunkt zum Rückzug gedrängt, als man noch nicht wusste, was an den Vorwürfen dran war.“ Auch hier: vorschnelle Verurteilung. Dieser Fall zeigt, was für eine Wucht Vorwürfe sexuellen Missbrauchs auslösen können – was übrigens eine wertvolle Errungenschaft der #MeToo-Bewegung ist: mediale Sichtbarkeit, öffentliches Interesse, ernsthafte Aufmerksamkeit. Damit sollte man sehr vorsichtig umgehen. Keine Gesellschaft lässt sich gern verarschen. 

Gelbhaar Kommentar 17.50

„Betroffenengerechtigkeit“. Offenbar wird dieses Wort in der Grünen Jugend falsch verstanden. Es sollte nicht bedeuten, dass alle Frauen automatisch Recht haben, nur weil sie Frauen sind. „Betroffenengerechtigkeit“ sollte heißen: Wir handeln im Sinne aller Menschen, die tatsächlich sexualisierte Gewalt erlebt haben. Niemand, der so eine furchtbare Erfahrung machen musste, wünscht sich Trittbrettfahrer(innen). Man müsse die Vorwürfe sexuellen Missbrauchs „ernst nehmen“, heißt es immer. Dieser Fall beweist, dass Vorwürfe „ernst nehmen“ immer bedeuten muss, dass man sie sorgfältig prüft. Das ist gerade im Sinne von Feministinnen: Es erhöht die Glaubwürdigkeit aller tatsächlichen Opfer. 

Falschbezichtigungen sind unfeministisch

Wie also weitermachen? Kleinere Missverständnisse zwischen Menschen könnten auch künftig gut bei Ombudsstellen direkt geklärt werden – ohne Strafverfolgung. Aber wenn es um justiziable Vorwürfe geht, braucht es ein Gegenüber, das sauber nachprüft und auch die Gegenseite hört. Denn: Schwerwiegende Vorwürfe bleiben immer irgendwie an Menschen kleben, selbst wenn sie widerlegt wurden. Man denke an Jörg Kachelmann.

Falschbezichtigungen gegen Männer sind keine Kollateralschäden, die man halt in Kauf nimmt, um die gute, feministische Sache voranzutreiben. Ganz im Gegenteil. Falschbezichtigungen sind unfeministisch. Denn Feminismus bedeutet: mehr Gerechtigkeit, mehr Solidarität. Gerade eine Bewegung, die sich richtigerweise für Opfer starkmacht, sollte das Ziel haben, tatsächliche Opfer von Trittbrettfahrer(innen) zu trennen. Sonst kostet es die Bewegung kostbares Vertrauen. 

Konflikt Grüne Gelbhaar 18.35

Der Fall Gelbhaar zeigt aber auch, wie schwer sich alle Lager mit Ambivalenzen tun. Viele Feministinnen sind gerade auffällig still. Und auf der anderen Seite schreien die Gegner: Die Frauen wollen mit dem Feminismus Männer köpfen! Hier ein paar Fakten, die alle gleichzeitig wahr sind: 

Ja, auch Frauen können lügen. Nein, eine Frau handelt nicht per se als feministische Heilige, nur weil sie eine Frau ist – Falschbezichtigungen denken sich trotzdem die allerwenigsten aus. Ja, viele Männer sind tatsächlich grausame Täter: Jeden Tag versucht ein Mann, seine Ex-Partnerin oder Partnerin zu töten. Stündlich erleben mehr als ein Dutzend Frauen Gewalt in der Partnerschaft. Im Jahr 2023 waren 70 Prozent der Opfer weiblich. Häusliche Gewalt nimmt zu – und die Dunkelziffer ist hoch. Ja, meistens sind es Männer, die Gewalt und Missbrauch ausüben. Aber: Ein Mann ist nicht automatisch der Täter, weil er ein Mann ist – auch Männer können zum Opfer werden. Klingt banal, ist es aber nicht. 

Kein blindes Glauben, kein gefühliges Geraune

Der Fall Gelbhaar zeigt, wie der unkritische Umgang mit dem Grundsatz „Betroffenen glauben“ nicht nur Ruf und Karrieren von Einzelpersonen zerstören, sondern auch dem Feminismus insgesamt schaden kann. Denn echter Feminismus bedeutet nicht blindes Glauben, nicht gefühliges Geraune. Wirklich solidarisch handelt, wer Vorwürfe konsequent und fair prüft, um Gerechtigkeit für Opfer zu erringen – und Falschbeschuldigungen zu verhindern.