Die SPD steht nach dem 16-Prozent-Desaster vor einer tektonischen Verschiebung. Parteichef Lars Klingbeil versucht die Flucht nach vorn – und könnte seine Macht nun ausbauen.
Jetzt passiert es wirklich, das muss der Moment sein, in dem die Statue von Willy Brandt im Atrium der Berliner Parteizentrale fassungslos davonläuft.
Knapp 16 Prozent, so zeigt es der kümmerliche rote Balken an, der um 18 Uhr sämtliche Befürchtungen in der SPD wahr werden lässt. Ungläubig, geradezu geschockt starren die Genossen auf ihr historisch schlechtestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl. Kanzlerpartei: vorbei. Es ist eine krachende Niederlage. Und nun?
Für die SPD beginnt eine neue Zeitrechnung, im Willy-Brandt-Haus dürfte es zu tektonischen Verschiebungen kommen. Der Parteivorsitzende Lars Klingbeil spricht von „Umbrüchen“, die erforderlich seien, von einem „Generationenwechsel“, der nun eingeleitet werden müsse. Er sagt: „Dieses Ergebnis ist eine Zäsur.“ Rumms.
Es ist eine unverhohlene Kampfansage des Parteivorsitzenden, der nun versucht, in die Offensive zu kommen – schließlich geht das Desaster auch auf seine Kappe.
Die klaren Worte richten sich daher nicht nur an Friedrich Merz, dem voraussichtlich nächsten Kanzler. Klingbeil adressiert auch die SPD – und wagt die Machtprobe. Am späten Sonntagabend wird bekannt: Klingbeil soll auch Fraktionschef werden.
„Schönen Dank“, sagt Olaf Scholz
Die SPD steht jetzt vor vielen Ungewissheiten, zumindest das ist schnell klar. Denn alles andere als klar ist um kurz nach 18 Uhr: Was bedeutet das alles?
Als die Prognosen über die Bildschirme flimmern, geht ein Raunen durch die SPD-Zentrale – nicht wegen des eigenen Ergebnisses, sondern wegen der gelben und lila Balken von FDP und BSW. Beide kratzen zu diesem Zeitpunkt an der Fünf-Prozent-Hürde für einen möglichen (Wieder-)Einzug in den Bundestag.
Das würde eine Regierungsbildung enorm komplizieren, eine Koalition aus zwei Parteien vom Tisch fegen – und stabile Verhältnisse wohl auch. Während der blaue Balken der AfD auf satte 20 Prozent angewachsen ist.
Katastrophe, Chaos: Das sind die Schlagworte, die im schnellen SMS-Wechsel mit Genossen fallen. Die Lage ist unübersichtlich, auch die Parteiführung muss sich offenkundig erst sortieren. Ohne die SPD geht laut der ersten Hochrechnung zwar nichts – aber wohin geht die Reise? Und wer gibt dabei die Marschrichtung vor?
Erst um 18.40 Uhr betritt die SPD-Führung das Atrium, die anderen Parteien haben die Ergebnisse da schon längst aus ihrer Sicht öffentlich eingeordnet. Gedämpfter Applaus, kein Jubel, träge Hände. Olaf Scholz, der abgewählte Kanzler, geht mit Ehefrau Britta Ernst auf die Bühne, eingerahmt von den beiden SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil.
„Schönen Dank“, sagt Scholz und spricht von einem „bitteren“ Ergebnis. Nach dieser Niederlage gelte es, gemeinsam nach vorne zu gehen. Er umklammert das Mikro mit beiden Händen, als würde er sich daran festhalten. Auch er trage Verantwortung für das Ergebnis, erklärt Scholz, räumt aber keine Fehler ein. „Ich werde dieses Amt bis zum letzten Tag ausüben.“ Am Bühnenrand stehen Boris Pistorius, der Verteidigungsminister, und Hubertus Heil, der Arbeitsminister, mit erstarrten Gesichtern.
Wenn er sich eines wünschen dürfe, sagt Scholz noch: „Es soll eine geschlossene SPD bleiben.“
Das ist nach diesem denkwürdigen Abend höchst unwahrscheinlich.
Die SPD muss sich jetzt neu sortieren
Denn hinter den Kulissen hatte sich die Partei längst Gedanken über eine Zeit nach Scholz gemacht und Korridore definiert, um die Schwere des Erdbebens einzugrenzen. Alles unter 20,5 Prozent, dem bisherigen Bundestagswahl-Tiefstand von 2017, galt als Desaster. Alles unter 15 Prozent, also in der Nähe des Europawahlergebnisses, als Katastrophe. Nun ist die SPD bei rund 16 Prozent herausgekommen. Wen trifft die Schuld? Und wie dringlich wird diese Frage gestellt?
„Dieses Ergebnis wird Umbrüche erfordern in der SPD“, sagt Parteichef Klingbeil also. Er hatte nach dem Wahlsieg von 2021, den er maßgeblich mitzuverantworten hat, noch ein sozialdemokratisches Jahrzehnt ausgerufen. Nun findet es nach nur dreieinhalb Jahren ein unrühmliches Ende.
Das dürfte auch Klingbeil angelastet werden, der sich hinter den unpopulären Kanzler als Kandidaten gestellt hatte, eigentlich auch stellen musste. Um Beliebtheitsminister Boris Pistorius ins Rennen zu schicken, wie es sich weite Teile der Basis gewünscht hatten, hätte Klingbeil den eigenen Kanzler mitten im Wahlkampf auswechseln müssen. Aber es nützt nichts: Auch Klingbeil wird sich erklären müssen.
„Es tut mir leid, dass es nicht anders geworden ist“, sagt der Parteichef zum schlechten Ergebnis. Und an die Wahlkämpfer gerichtet: „An euch hat es nicht gelegen.“ Selbstkritik, um der erwartbaren Kritik etwas entgegenzusetzen. Dann wird der SPD-Chef grundsätzlich.
Lars Klingbeil soll Fraktionsvorsitz übernehmen
Die Partei müsse sich organisatorisch, programmatisch und auch personell anders aufstellen. Klingbeil, jetzt kämpferisch: „Ich sage hier mit absoluter Klarheit: Der Generationswechsel in der SPD muss eingeleitet werden.“ Man wüsste gern, was Boris Pistorius, 64, über die Worte von Lars Klingbeil, 46, denkt.
Die Botschaft ist klar: Klingbeil will weiter den Kurs der SPD vorgeben. In eine neue Regierung, möglicherweise sogar als Minister und sogar Vizekanzler? „Verantwortung kann man in einer Regierung, aber auch in einer Opposition übernehmen“, sagt der Parteichef. Das richtet sich an Wahlsieger Merz: Ein Bündnis mit der SPD hätte seinen Preis.
Am späten Sonntagabend erreicht die Fraktionsmitglieder der SPD ein Brief von ihrem Vorsitzenden, Rolf Mützenich. „Wo ich konnte, habe ich mit Standfestigkeit und Haltung versucht, die Dinge zu verbessern und Rückschritt aufzuhalten“, schreibt er an seine Genossen. Der Brief liegt dem stern vor. Gleichwohl müsse er anerkennen, wo seine Grenzen „und die äußeren Umstände“ lägen. Mützenich: „Heute sind wir in der Parteiführung zu dem Schluss gekommen, dass es gut ist, wenn Jüngere den Karren weiterziehen und die Kräfte gebündelt werden.“ Einstimmig schlage man daher Lars Klingbeil, den SPD-Chef, für den Fraktionsvorsitz vor. Am Montag solle der amtierende Fraktionsvorstand über den Personalvorschlag befinden und Klingbeil für die Wahl am Mittwoch vorschlagen.
Der SPD-Chef würde durch die Doppelfunktion an machtpolitischem Gewicht gewinnen, vor allem, wenn er in mögliche Verhandlungen über eine Koalition eintreten würde. Das könnte bei den Genossen aber noch für Kontroversen sorgen, schließlich wird Klingbeil am Wahlergebnis auch ein Anteil zugeschrieben.
Seine Zeit als Fraktionsvorsitzender gehe damit zu Ende, schreibt Mützenich. „Und wenn mein Wirken helfen konnte, der Fraktion Gesicht und Stimme zu geben, dann bin ich zutiefst dankbar:“
Der Kanzler versucht ein Lächeln
Olaf Scholz winkt zum Abschied, versucht ein Lächeln, als er mit Applaus von der Bühne begleitet wird. Führende Sozialdemokraten geben erste Fernsehinterviews, das Atrium leert sich. Dann brandet gegen 20 Uhr lauter Jubel in der Parteizentrale auf: Die ARD-Hochrechnung sieht nun sowohl FDP als auch BSW unter der Fünf-Prozent-Hürde. Damit wäre eine Große Koalition möglich – mit der einstigen Kanzlerpartei SPD als Juniorpartnerin. Es ist der einzige Jubel-Moment an diesem denkwürdigen Abend. Dabei sehen wiederum die ZDF-Zahlen das BSW im Bundestag, was eine GroKo ausschließen würde.
Die orientierungslosen Sozialdemokraten können jetzt jeden leisen Hoffnungsschimmer gebrauchen.