Interview: Wie ein neuer Krieg in Syrien verhindert werden kann

Droht in Syrien ein erneutes Aufflammen des Bürgerkrieges? Der Nahost-Experte Daniel Gerlach erklärt im Interview die Hintergründe des Konfliktes und was jetzt geschehen muss.

Am vergangenen Wochenende brachen in Syrien Kämpfe zwischen den neuen Machthabern und Angehörigen des alten Regimes aus. Islamistische Milizen verübten mehrere Massaker an der alawitischen Gemeinschaft. Syrische Menschenrechtsorganisationen zählten bis zu tausend zivile Opfer. Der stern sprach mit dem Nahost-Experten Daniel Gerlach über die Lage in dem Krisenstaat.

Herr Gerlach, Syrien ist ein unglaublich vielfältiges Land. Vielleicht können Sie uns erst mal helfen, einen Überblick zu gewinnen. Wer lebt denn eigentlich alles in Syrien?
Das erzähle ich Ihnen gerne. Aber dann wird das ein sehr langes Interview.

Fangen Sie ruhig an. Wir schauen mal, wie weit wir kommen.
Es gibt kaum ein Land im Nahen Osten, indem so viele verschiedene Ethnien und Konfessionsgemeinschaften leben, wie in Syrien. Neben der sunnitisch-arabischen Bevölkerungsmehrheit finden sich ethnische und konfessionelle Minderheiten. Wobei diese teilweise auch Sunniten beziehungsweise Araber sein können. Es gibt allein neun christliche Konfessionen. Hinzu kommen Drusen, Alawiten, Ismailiten, Schiiten. Nicht zu vergessen Kurden, Tscherkessen, Turkmenen, Armenier und Jesiden.

Die Massaker vom Wochenende haben in erster Linie die Alawiten getroffen. Können Sie kurz erklären, wer die Alawiten sind?
Alawiten werden in der Berichterstattung oft als schiitische Gruppierungen bezeichnet. Das stimmt theologisch nicht, sondern lediglich was ihre Entstehungsgeschichte betrifft. Sie sind übrigens auch nicht mit den Aleviten zu verwechseln, die wir hauptsächlich aus der Türkei kennen. Die Alawiten sind eine faszinierende esoterische Strömung mit mystischen und antiken, vorislamischen Elementen, die aus dem Islam hervorgegangen ist. Es gibt großen Dissens – auch innerhalb der alawitischen Gemeinschaft – zu der Frage, ob die Alawiten Muslime sind oder nur islamisch geprägt. Das syrische Recht betrachtet sie als Muslime. Gleichzeitig gibt es Dutzende Fatwas, Rechtsgutachten, von extremistisch-islamistischen Gelehrten, die Alawiten weder als Muslime noch überhaupt als eigene Religionsgemeinschaft anerkennen. Demnach wären sie Ungläubige. Religiös motivierter Hass gegen Alawiten ist ein Faktor, der immer wieder zum Tragen kommt.

Welche Rolle haben die Alawiten im Regime gespielt?
Die Familie Assad ist alawitisch. Sie waren die ersten Alawiten, die überhaupt zu politischer Macht gelangten. Das Assad-Regime hat vielen Alawiten Zugang zu Positionen im Staatsapparat, im Militär und in den Geheimdiensten gewehrt. Die Alawiten, so das Kalkül, würden sich besonders loyal verhalten. Aufgrund der familiären und kulturellen Beziehungen zu den Assads, aber auch aufgrund der Angst und des Misstrauens gegenüber der sunnitischen Mehrheit. Das Regime hat diese Angst geschürt. Obwohl viele Menschen in der alawitischen Gemeinschaft gar nicht vom Regime profitiert haben. Sie blieben arm, wurden zum Teil sogar als Oppositionelle eingesperrt. Die Gemeinschaft wurde quasi in Geiselhaft genommen und in einen Loyalitätspakt gezwungen.

Sie haben in der Vergangenheit immer wieder auf den hohen Blutzoll hingewiesen, den die alawitische Gemeinde gezahlt hat.
Die meisten alawitischen Familien sind nicht vermögend. Sie hatten nicht die Chance, sich vom Militärdienst freizukaufen, was gängige Praxis war. Als Alawit hatte man einen Job beim Staat und diente in der Armee. Die Rebellen waren zu Beginn des Krieges gut bewaffnet und fügten den Streitkräften und Paramilitärs des Regimes große Verluste zu. Das Regime hat viele zivile Opfer in Syrien zu verantworten. Aber es gab auch viele Todesopfer aufseiten der Streitkräfte. In den Dörfern an der Küste, im Siedlungsgebiet der Alawiten, gibt es mancherorts kaum noch junge und mittelalte Männer.

Hat die alawitische Gemeinde auch Schuld auf sich geladen in diesem Krieg?
Es gibt keine Kollektivschuld. Sunnitische und alawitische Würdenträger in den letzten Jahren haben wiederholt darauf hingewiesen, dass man nicht wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Konfessionsgemeinschaft für Verbrechen verantwortlich gemacht werden kann. Aber viele Menschen in Syrien sehen das anders. In ihren Augen waren die Alawiten die herrschende Macht hinter dem Assad-Regime. Man kann davon ausgehen, dass eine höhere Anzahl von Alawiten an Kriegsverbrechen und Folter beteiligt gewesen ist – prozentual gemessen am Bevölkerungsanteil. Eben weil viele Alawiten als Offiziere dienten. Aber deshalb die gesamte Gemeinschaft haftbar zu machen, das halte ich für unmoralisch, gefährlich und abwegig.

Sie haben schon kurz vor den Massakern davor gewarnt, dass die Lage in Syrien angespannt ist. War es nur eine Frage der Zeit, bis es zu solch einem Gewaltausbruch kommt?
Ja, das war zu befürchten. Das Regime ist von heute auf morgen verschwunden. Überall gibt es noch Waffen. Die neue Regierung unter Ahmad al-Sharaa hat einen Großteil der Beamten aus Armee und Staatsdienst entlassen, was natürlich viele Alawiten getroffen hat. Viele bekommen seit Monaten kein Gehalt. In der Folge kam es zu Protesten. Banden des alten Regimes haben das genutzt. Sie haben Vorfälle provoziert und die Sicherheitskräfte der Regierung in einen Hinterhalt gelockt. Milizen haben das zum Anlass genommen, um an den Alawiten insgesamt Rache zu nehmen. Darunter Milizionäre der Regierung, vor allem aber wohl solche Verbände, die nicht unter ihrem direkten Kommando stehen.

Welche Rolle spielten die neuen Machthaber in Syrien, die HTS-Miliz und Ahmad Sharaa?
Ungeklärt ist: Hat die Regierung Sharaa das nicht verhindern können? Oder hat sie nicht durchgegriffen, weil sie zu diesem Zeitpunkt keinen offenen Konflikt mit rivalisierenden Gruppen ihrer eigenen Allianz riskieren wollte? Bei mir liegt der Verdacht nahe, dass Zweiteres der Fall ist. Ich glaube nicht, dass Al-Sharaa wollte, dass es zu solchen Massakern kommt. Aber ihm war der Preis zu hoch, den es gekostet hätte, sich den anderen Extremisten entgegenzustellen. Zumal die Milizen der neuen Regierung zahlreiche Opfer zu beklagen hatten. Der Wunsch nach Vergeltung war groß. Nun haben sich seine Rivalen in der eigenen Allianz als Schlächter entblößt. Und den Alawiten wurde eine Lektion erteilt, damit sie sich nie wieder erheben. So dürfte es zumindest mancher in Damaskus sehen.

Sie haben schon zu Beginn die Spaltung des Landes angesprochen, die das Assad-Regime systematisch vorangetrieben hatte. Lassen Sie uns einen Blick in die Zukunft werfen: Wird das Land die Erblast des alten Regimes irgendwann los?
Ja, das lässt sich überwinden, aber nur, wenn es die politisch Verantwortlichen ernst meinen. Wenn wir uns die lange Geschichte Syriens anschauen, dann hat es immer wieder Momente gegeben, in denen die Bevölkerung zusammengehalten hat.

Wie lässt sich das überwinden?
Erstens: Die internationale Gemeinschaft muss permanent den Druck hochhalten und ein Auge darauf haben, dass Schutz und Mitbestimmung der Bevölkerungsgruppen wirklich umgesetzt werden. Notfalls muss der Westen auch bereit sein, militärische Stärke zu zeigen, wenn Milizen auf die Bevölkerung losgehen. Zweitens: Es braucht eine professionelle, zuverlässige Armee und Polizeikräfte, die lokal verwurzelt sind und denen die Menschen vertrauen. Drittens: Man muss verantwortlich mit Sprache umgehen. Wenn man vom Dschihad gegen die „Überreste des alten Regimes“ spricht, kann das als Freibrief zum Massenmord an Alawiten verstanden werden. Und viertens: Es braucht eine Justiz, die Straftäter verfolgt, aber keine Siegerjustiz ist. Dafür sind vertrauenswürdige, gesellschaftliche Persönlichkeiten aus allen Gemeinschaften unabdingbar. Sie müssen jetzt die Mediation übernehmen.

Manch einer mag sich angesichts der jüngsten Berichte denken: immer wieder der Nahe Osten. In dieser Region wird es einfach nie Frieden geben. Stimmt das?
Ich schreibe interessanterweise gerade ein Buch zu diesem Thema. Wenn man sich die ganze Geschichte des Nahen Ostens anschaut, dann sind die Phasen, in denen es keine verheerenden Kriege gegeben hat, länger als in Europa. Aber insbesondere in den letzten Jahrzehnten sehen wir wieder die Überlagerung von geopolitischen Konflikten und ethnisch-konfessionellen Gegensätzen. Das ist eine sehr toxische Mischung. Aber es gibt Länder, denen es gelungen ist, das zu überwinden. Ich bin sehr häufig im Irak. Vor zehn Jahren war ich skeptisch, ob dort jemals Sicherheit einkehrt. Ein halbwegs normales Zusammenleben zwischen Sunniten und Schiiten schien mir weit entfernt. Heute ist dieses Thema für die junge Generation deutlich in den Hintergrund getreten. Diese Möglichkeit sehe ich auch in Syrien. Auch wenn die Ereignisse der letzten Tage nicht gerade dazu geführt haben, das Vertrauen zu stärken.