Eine Halbzeit dominiert die deutsche Nationalmannschaft Italien komplett, punktet unter anderem mit einem kuriosen Tor. Dann kippt die Partie.
Erst Weltklasse, dann von der Rolle und noch gezittert: Dank 45 Minuten Fußball-Machtdemonstration hat die Nationalmannschaft Italien bezwungen und spielt im Juni vor ihren Heimfans beim Final Four um den Siegerpokal in der Nations League. Die Titelpläne von Bundestrainer Julian Nagelsmann werden ein gutes Jahr vor der WM in Amerika konkreter. Der Rausch einer perfekten ersten Halbzeit wurde beim 3:3 (3:0) aber durch zu viel Schludrigkeit nach der Pause massiv getrübt.
Mit der in der ersten Halbzeit besten Leistung seit dem legendären 7:1 gegen Brasilien beim WM-Triumph 2014 beherrschten Kapitän Joshua Kimmich, Zauberfuß Jamal Musiala und der neue Torgarant Tim Kleindienst im Viertelfinal-Rückspiel eine lange überforderte Squadra Azzurra.
Deutschlang gegen Italien und die Erinnerungen an 4:4 gegen Schweden
Der einstige Angstgegner schien zur Halbzeit demoralisiert, fand aber mit deutscher Hilfe noch einmal ins Spiel zurück. Plötzlich kamen in Dortmund Erinnerungen an das historische 4:4 gegen Schweden nach 4:0-Führung vor gut zwölf Jahren auf. Doch der Vorsprung reichte diesmal – aber nur dank des 2:1 im Hinspiel von Mailand.
Im einst ungeliebten UEFA-Wettbewerb geht es für die seit dem EM-K.o. in acht Spielen ungeschlagenen DFB-Auswahl am 4. Juni mit dem Halbfinale weiter. Vier Tage später soll in München der kleine Titel perfekt gemacht werden – als Appetithappen für das große Ziel WM-Sieg 2026.
Die Erkenntnis: In der Form der ersten Halbzeit muss sich die DFB-Elf vor der Konkurrenz aus Argentinien und Spanien nicht verstecken. Die zweiten 45 Minuten wird Nagelsmann aber ernsthaft aufarbeiten müssen.
Leon Goretzka als Gewinner der Woche
Kimmich in seinem 99. Länderspiel per Foulelfmeter (30. Minute), Musiala (36.) mit einem rotzfrechen Eckentor, das selbst für das TV-Signal zu schnell fiel, und Kleindienst (45.) trafen vor 64.762 zunächst begeisterten, später aber bangenden Fans in Dortmund in der ersten Halbzeit. Moise Kean (49./69.) nutzte die Ungenauigkeiten in der zweiten Hälfte zum italienischen Signal zur Aufholjagd. Joker Giacomo Raspadori (90.+5) glich ganz spät per Elfmeter aus.
Nagelsmann hatte eigentlich die richtigen Personalentscheidungen getroffen. Leon Goretzka als Gewinner der Woche und Angelo Stiller organisierten die Übermacht im Mittelfeld, Nico Schlotterbeck sorgte als dritter Innenverteidiger für Stabilität. Aber in der zweiten Halbzeit kam der unerklärliche Bruch im Spiel.
Am Jahrestag des schnellsten DFB-Treffers der Länderspielgeschichte legte das Nationalteam wieder furios los. Bereits nach 15 Sekunden hatte der in die Startelf berufene Maximilian Mittelstädt die erste Abschlussmöglichkeit. Auch Rückkehrer Goretzka kam nach rund einer Minute frei am Sechzehner zum Abschluss, verzog aber knapp. Vor genau einem Jahr hatte Wirtz beim 2:0 in Frankreich nach 7,92 Sekunden zur Führung getroffen.
Kapitän Kimmich geht gegen Italien voran
Dass Italien das frühe Führungstor aus dem Hinspiel über Außenbahnspieler Giovanni di Lorenzo beinahe kopiert hätte, geriet im stimmungsvollen Fußball-Tempel zu einer Randnotiz. Nach der spektakulären Rettungstat von Jonathan Tah attackierte bis zur Halbzeit nur noch das Nagelsmann-Team.
Angeführt von den beiden Bayern-Kumpels Kimmich und Goretzka drückte die DFB-Elf den ewigen Rivalen mit ebenfalls vier WM-Titeln immer weiter in die eigene Hälfte. Obwohl das Team von Trainer Luciano Spalletti nach der Niederlage in Mailand unter Druck stand und Tore brauchte, spielte ausschließlich Deutschland.
Was dann innerhalb von 15 Minuten passierte, erinnerte spielerisch an die größten Sternstunden des deutschen Fußballs. Zunächst bediente Goretzka den extrem präsenten Kleindienst, der von Alessandro Buongiorno nur mit einem Foul im Strafraum zu stoppen war. Kapitän Kimmich ging beim Elfmeter voran und verwandelte erstmals seit Juni 2023 wieder einen Strafstoß für das DFB-Team.
Eckentor für die Jahresrückblicke
Kimmich war es auch, der fünf Minuten später für einen Moment für alle Sport-Jahresrückblicke sorgte. Was war passiert? Ein Balljunge warf nach der Parade von Gianluigi Donnarumma geistesgegenwärtig den Ball direkt zu Kimmich.
Dieser bemerkte Italiens Unaufmerksamkeit im Strafraum und spielte direkt flach in die Mitte, wo Bayern-Kollege Jamal Musiala komplett frei stand und ins leere Tor vollenden konnte. Donnarumma hatte zu diesem Zeitpunkt noch mit seinen Vorderleuten gehadert und diese zurechtgewiesen. „Ich bin schon lange dabei, aber so was habe ich noch nicht gesehen“, sagte der deutsche Rekordnationalspieler Lothar Matthäus bei RTL.
Italien fiel nun in sich zusammen und wurde noch vor der Halbzeit mit einem dritten Gegentreffer bestraft. Nach einer sehenswerten Kombination chippte Kimmich den Ball von rechts in die Mitte, wo Kleindienst seine Lufthoheit ausspielte und zum 3:0 vollendete. Es war das vierte Tor im sechsten Länderspiel für den Stürmer von Borussia Mönchengladbach.
Deutschland – Italien: Nach der Pause alles anders
Während die deutschen Fans euphorisiert wirkten, glich der Halbzeitpfiff für Italien einer Erlösung. „Richtig geile 45 Minuten. Diese Leistung war grandios. Italiens Mannschaft weiß gar nicht, was mit ihr passiert ist“, sagte Matthäus freudig. Als er sich im ungewohnt feinen Zwirn vor dem Anpfiff Fußball-Festtage für das Nationalteam wünschte, hatte er so ein Szenario wohl nicht im Kopf.
Die Pause wirkte im Spiel wie ein ganz harter Bruch. Nach dem Seitenwechsel wich die deutsche Begeisterung plötzlich einer Verunsicherung, die zu einigen Fehlpässen und technischen Patzern führte.
Keans erstes Tor folgte auf ein unsauberes Zuspiel von Leroy Sané. Der nach dem Wechsel herausragende Angreifer des AC Florenz tanzte 20 Minuten später noch einmal Tah aus und schloss trocken zum 2:3 ab. Als di Lorenzo wenige Minuten später im Strafraum nach einem Zweikampf mit Schlotterbeck zu Fall kam und Szymon Marciniak auf den Elfmeterpunkt zeigte, wirkte das deutsche Team kurzzeitig in Schockstarre.
Marciniak aber kassierte seine Entscheidung nach Sichtung der Videobilder wieder. Um das denkwürdige Comeback innerhalb von 45 Minuten zu schaffen, war Italiens Hypothek nach den ersten drei Halbzeiten zu groß. Raspadoris Elfmeter in der Nachspielzeit kam für Italien zu spät.